Wenn Helfen hilft
Berlin, 20.06.2023
Sie sitzt oben in Halle 6.3 des Berliner Messezentrums, bewacht das Hab und Gut der Medienvertreter und strickt nebenbei fleißig Socken für Bedürftige. Eine sitzende Tätigkeit war wichtig für den Einsatz von Birgit Müller als eine von 18.000 Volunteers bei den Special Olympics World Games Berlin 2023. Beide Hüften sind kaputt seit einem unverschuldeten schweren Autounfall mit Todesfolge vor 33 Jahren.
Sie kämpft mit den Tränen, wenn sie über ihre Motivation zu helfen und über den 10. Dezember 1990 spricht. Beides hängt untrennbar zusammen. Mittelschweres Schädelhirntrauma, knapp sechs Wochen im Koma, Amnesie und ein langer schwerer Weg zurück ins Leben. „Ich habe es überlebt, war aber anderthalb Jahre komplett raus“, sagt die 60-Jährige.
Und so richtig gut wurde es nicht mehr. Als gelernte Fernmelde-Elektronikerin, später Computerspezialistin blieben nach dem tragischen Einschnitt „so ein bisschen Routinearbeiten am PC“. Weil einfach nicht mehr geht, hat sie 2012 auf eine halbe Stelle reduziert. „Ich war nach dem Unfall ziemlich eingeschränkt und habe angefangen Konzentration und Koordination zu fördern“, sagt die Stuttgarterin.
Schießen war das Mittel der Wahl. Müller hat drei Trainerscheine gemacht und unterrichtet mittlerweile seit zehn Jahren an der Schickhardt-Gemeinschaftsschule und an der Heusteig Schule in Stuttgart Bogenschießen. „Das hat mir so gutgetan, da bin ich einfach drangeblieben“, sagt die Schwäbin. Im Normalfall trainiert sie noch zweimal die Woche bei der Schützengesellschaft Esslingen. Dabei stehen auch einige Turniersiege auf ihrer Erfolgsliste, mit Luftgewehr, Luftpistole und Bogen.
Bei einer Fortbildungsmaßnahme an der Sportschule Ruit stieß Müller dann auf einen Aushang. Die Veranstalter der Turn-Weltmeisterschaft in Stuttgart 2019 suchten freiwillige Helfer. „Ich bin da, warum nicht“, dachte Müller, „seitdem bin ich in dem Verteiler.“ Für ihre freiwilligen Einsätze, wie auch jetzt bei den Special Olympics World Games, nimmt sie jeweils Urlaub. Ihr Arbeitgeber würde sie freistellen, aber das will sie nicht: „Das ist meine Sache.“ Das Helfen half ihr auch über dunkle Gedanken und eine drohende Depression hinweg. „Es ist einfach eine Befriedigung, etwas Gutes zu tun“, sagt Müller, „das ist einfach meine Dankbarkeit, dass ich noch da sein darf.“
Strickwaren faszinieren Müller seit ihrem 13. Lebensjahr. Nach dem Schicksalsschlag wurden zunächst Ärzte und Therapeuten mit allerlei Handarbeiten versorgt. Es wurde mehr daraus. Ein Engagement im Verein Wooligans. Nunmehr seit mehr als zehn Jahren. Über tausend Paar Socken hat sie seither gestrickt, die lokale wohltätige Organisationen an Bedürftige verteilen.
Den ehemals bundesweit tätigen Verein gibt es nicht mehr. Die Wooligans in der Schwabenmetropole mit zehn fleißigen Handarbeiterinnen aber schon. Beim Problem der ausbleibenden Wollspenden hilft mittlerweile Müllers Stammladen Wolle Rödel, der für die Gruppe sammelt. 350 Gramm hat sie mit im Gepäck. Daraus sollen am Ende der Weltspiele-Woche in Berlin sieben Paar Socken gestrickt sein. Sieben Mal warme Füße für Bedürftige in ihrer Heimatstadt Stuttgart.
Text: Mark Mittasch
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